Silvester 2021 ist nun überstanden und unsere Strategie die Pferde an einen Platz auf der Koppel zu bringen, wo man je nach Lage entweder etwas durch Bäume und Sträucher geschützt ist, aber auch die Möglichkeit hat einen sanften Hügel hinaufzusteigen, um den pyrotechnischen Wahnsinn im wesentlich tiefer gelegenen Dorfkern genau zu betrachten, ist aufgegangen. Wir begleiteten die Pferde in dieser Nacht zu dritt, meine Frau Michaela, ich selbst und mein bester Freund S. – und schon gegen 22:00 Uhr war eine extreme Anspannung sowohl in der Herde als auch in der ganzen Umgebung zu spüren. Das wilde Treiben, welches sich schon vorher wohl alkoholbedingt irgendwo in der Nähe des Feuerwehrgerätehauses abspielte, war aufgrund der Geländebeschaffenheit mit stetigem Anstieg von dort aus und dem Wald im Rücken auf der Koppel so gut zu hören, wie wenn es sich nur 25 Meter entfernt abspielen würde. So ist das immer, wenn Windrichtung und Wetter günstig sind. Wie in einem natürlichen Schalltrichter/Reflektor. Die beiden alten Haflinger kennen das bereits und machen sich im Allgemeinen nicht sonderlich viel daraus – für Zip ist das neu und kommt immer "vollkommen überraschend" – er hält dann inne, steht da wie eine Marmorstatue und lauscht ganz aufmerksam, ob die Geräuschquelle eine Gefahr darstellen könnte. Als die Stunden vorrückten und sich der Moment des Übergangs näherte, verdichtete sich die Atmosphäre im extremen Maße – Pferde sind Energieleser und wenn man wie wir viele Jahre täglich mit ihnen „abhängt“ ohne etwas Bestimmtes von ihnen zu wollen, also Teil der Herde wird, dann lernt man allmählich, dass auch der Mensch dazu fähig ist feinste energetische Modulationen im Feld fast genauso gut wahrzunehmen. Man wird sozusagen langsam aber sicher Stück für Stück selbst zum Pferd im Menschenleib. Das klingt zuerst einmal esoterisch, ist aber nur ein Beweis dafür, wie anpassungsfähig das menschliche Bewusstsein ist, wenn man aufhört es in die passende Form zu pressen die der „zivilisierten“ (lies: syphilisierten ) Gesellschaft dienlich ist. Das ist unsere Form von „NON SERVIAM“ und auch im Alltag der „Menschendinge“ viel mächtiger, als man sich das auf den ersten Blick vorstellen kann. Zip hält die Anspannung nicht mehr aus und beginnt die eingehenden Impulse in Bewegung umzusetzen. Das ist Pferdeart mit Gefahr umzugehen - Impuls – Zündung – Vortrieb – als wenn er selbst eine Rakete wäre. Er rennt, er steigt und schlägt wilde Haken auf der freien Fläche, die den vorderen Bereich unserer Koppel mit dem Stall und den hinteren eher wilden Teil miteinander verbinden. Immer wieder kommt er zurück zu seiner Herde, um kurz dort zu stehen, die beiden Haflinger und uns anzusehen und sich anscheinend darüber zu wundern das wir es ihm nicht gleichtun. Dann ist es so weit. Glockengeläute, Raketen steigen auf, es beginnt… Eine Welle geht durch die Herde, durch uns und alles um uns herum. Ich kann Angst wahrnehmen. Nicht so viel davon, wie ich vorher erwartet hatte, aber deutlich fühlbar. Loisl beschließt den geordneten Rückzug und die Herde setzt sich in Bewegung. Wir folgen seinen Schritten in gemäßigtem Tempo. Am Ende des Hügels, wo wir uns einen Picadero eingerichtet haben, bleiben wir alle stehen und betrachten das sich entfaltende Spektakel – auch Zip hat sich weitestgehend beruhigt. Er steht etwas abseits auf der rechten Seite, ist aber in guter Verbindung zu uns allen. So hätte ich es mir nicht vorgestellt – ich bin sehr stolz auf ihn und ich glaube wahrgenommen zu haben, dass er das auch für sich selbst empfindet. Ich stelle mich an seine Seite und mir steigen nahezu sofort Tränen in die Augen. Was er dort mit mir teilt kann ich nicht in Worten ausdrücken – auf der einen Seite, weil es in unserer objektorientierten Sprache dafür keine Begriffe gibt, auf der anderen Seite, weil es so unfassbar persönlich ist, dass es nur für mich Sinn ergeben würde. Die bedingungslose Liebe ist wahrlich mein „Herz der Kreatur“ – es gibt nichts zu vergeben – nichts zu vergelten, doch der konditionierte Teil von mir stammelt innerlich etwas von „das kann ich nie wieder gut machen“, bevor auch mein Ego begreift, dass das gar nicht nötig ist. In diesem unendlich langen „Jetzt“ ist alles um uns herum verschwunden – es gibt nur uns beide, absolute Stille, den Wald und den sanften Wind in den Weiden. Ich sehe ihm tief in die Augen und beginne seinen muskulösen Hals zu streicheln, was ihn noch etwas ruhiger werden lässt bis der Lärm und der Feuerzauber nach etwa einer halben Stunde langsam aber sicher nachlassen. Ich bin vollkommen „überfahren“ und meine Sinne so derartig geschärft, dass es mir vorkommt, als sähe ich zu ersten Mal die Welt wie sie wirklich ist. Ich „erwache“ aus meiner Trance und ich bin wieder im Picadero, im Mandelbachtal, auf meiner Koppel, auf der ich jeden Grashalm und jeden Stein so gut kenne, als wäre er ein integraler Teil von mir. Es ist überstanden und wir beginnen die Pferde auf den Marsch nach vorne zum Stall bereit zu machen – Michaela übernimmt die Führung. Wir alle folgen ihr andächtig, ohne Strick, ohne Gerte, als Herde, die der Energie des Augenblickes folgt. Vorne angekommen gibt es einen wohlverdienten Eimer Mash für die Pferde und eine große Portion frisches Heu. Ich muss mich hinsetzen und S. tut es mir gleich. Ich bin immer noch vollkommen zwischen den Welten. Wir unterhalten uns über unsere gesammelten Eindrücke. Irgendwann bemerke ich eine seltsame Präsenz, stehe dann auf und habe den Impuls nach Süden zum Wald zu blicken. Es scheint von dort zu kommen. Ich habe das Gefühl, dass es um mich herum wabert, wie eine nebulöse Wolke. Ich spüre eine wilde „Ungehaltenheit“ in der Luft – und muss sofort an etwas großes, „trollartiges“ denken, bis mir einfällt welche Zeit gerade ist. Die Rauhnächte – die Zeit der Percht und der schwarzen Göttin. Da ist noch etwas anderes, erhabenes, uraltes und von der Energie her sehr feminines zu uns gekommen – Ich habe über die Jahre naturmystischer Praxis gelernt Dinge auszusprechen, wenn sie scheinbar von außen, in mein Bewusstsein dringen, auch wenn sie noch so abwegig für „moderne Menschen“ erscheinen mögen. Wer sich mit „Geistern“ zu umgeben pflegt und sie ohne Angst hereinbitten kann ist ungefähr so etwas wie ein Schamane – oder nach moderner Lesart jemand mit einer ernsthaften schizoiden Störung. Ich habe mich daran gewöhnt verletzbar zu sein also spreche ich es laut aus: Gegrüßt seiest du große Mutter Hel! Das ätherische Feld, welches mich umgibt entspannt sich ein wenig sobald ich es ausgesprochen habe. Sie scheint zufrieden mit uns zu sein und ich kann ein wölfisches Grinsen in der Dunkelheit erahnen und auch die wilden Schatten der Perchtböcke rücken etwas von uns ab. Die weise alte Frau Holle belohnt jene, die fleißig ihre (innere) Arbeit verrichtet haben. Es scheint selbst für eine Gottheit heutzutage schwierig von den Sterblichen wahrgenommen zu werden, die so sehr in ihrer Geschäftigkeit verstrickt sind, dass sie ständig vorausplanen, dabei aber das unmittelbar Präsente völlig aus den Augen verlieren. Plötzlich habe ich das Gefühl ins Bodenlose zu fallen, heftige Orientierungslosigkeit als sich das unendlich Große was ich gerade bin zu einem winzigen formlosen Ding in der Dunkelheit zusammenfaltet, nehme dann wie im Schnelldurchlauf einen heftigen Druck um meine Schädelkrone wahr, als würde ich ein weiteres Mal durch den Geburtskanal meiner Mutter gepresst werden, dann eine Phase der Atemlosigkeit und Enge und schließlich befreiende Weite, Licht und Kälte. Die weise Hüterin der Seelen schenkt mir eine Erinnerung an die Zukunft und Vergangenheit zugleich. Eine Wiedergeburt als Helrunar – „einer der mit der Hel zu raunen weiss“. Die Göttin verlangt von uns Männern die gleiche spirituelle und auch körperliche Hingabe wie sie in der heutigen Zeit oft nur Frauen eigen ist. Sie sucht ihr Gegenstück nur unter jenen die ihr auf Augenhöhe begegnen können – und so die Einigkeit zwischen Mutter Erde und Vater Himmel zum schöpferischen Gesamtkosmos des unendlichen Werden und Vergehens zu ergänzen fähig sind. Die Erfahrung kommt zu einem jähen Ende – als ich versuche das Erlebte meinen beiden Begleitern zu kommunizieren. Wenn das rationale Denken einsetzt, zensiert es alles was seine Herrschaft der „Vernunft“ gefährden könnte. Ein Fluch und ein Segen zugleich. Wir sitzen noch eine Weile sprachlos bei den Pferden, um ihnen Gesellschaft zu leisten, dann legt Zip sich etwas abseits von den Anderen auf die Erde, um zu ruhen und wir stellen fest, dass es für uns nun Zeit ist nach Hause zu gehen und gemeinsam das Neujahrsmahl einzunehmen. Die Dinge, die ich in dieser Nacht erlebt habe, halten mich noch bis in die frühen Morgenstunden wach, bis ich dann endlich auch vollkommen erschöpft, aber auch sehr dankbar in einen scheinbar traumlosen Schlaf falle. Was wird das neue Jahr bringen, wenn es schon so furios beginnt? – Ich bin in freudiger Erwartung… In diesem Sinne wünsche ich all jenen die ich bisher vergessen habe ein frohes neues Jahr 2022…
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